Gehen uns die Medikamente aus?
Fast 600 Arzneimittel sind in Österreich momentan Mangelware. Auch wenn die Regierung kürzlich mit den Wirkstofflagern
eine wichtige Maßnahme umgesetzt hat: Mittel- und langfristig löst es das Problem der Engpässe nicht. Denn Europa ist von China und Indien abhängig. Dort wird billiger produziert.
Winterzeit ist auch Erkältungszeit. Kaum jemand kommt ohne Husten, Schnupfen oder Fieber über den Winter, die jährliche Grippewelle tut ihres dazu. Vor allem Kinder sind vor Viren und Bakterien nicht gefeit. Fiebersaft und Antibiotika müssen her und die sind auf einmal Mangelware. Echt? In Österreich, unserem Hochversorgungsland? Eine Situation, die man sich bisher nur schwer vorstellen konnte. Und doch bewies der vergangene Winter anderes. Fiebersenkende Medikamente und bestimmte Antibiotika waren in einigen Apotheken nicht mehr zu haben. Weil diese Arzneimittel die breite Bevölkerung und vor allem auch die Versorgung von Kindern betreffen, wurde das Problem erstmals auch in der Öffentlichkeit deutlich sichtbar.
Medikamenten Engpässe werden mehr
Ein neues Phänomen ist das nicht. Allerdings hat das Ausmaß von Lieferengpässen in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark zugenommen. Von 2000 bis 2018 gab es in Europa laut der „Gesundheit Österreich GmbH“, dem nationalen Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen, einen 20-fachen Anstieg an Lieferengpässen.
Aktuell sind in Österreich laut Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) 568 Arzneimittel gar nicht oder nur eingeschränkt verfügbar. Für die Versorgung der Patienten muss das zwar noch keinen Engpass bedeuten, weil Apothekerinnen und Apotheker sich mit unterschiedlichen Maßnahmen behelfen (siehe Infokasten unten). Jedenfalls heißt es aber einen erheblichen Mehraufwand. „In den Wintermonaten kümmert sich teilweise eine Vollzeitkraft ausnahmslos um die aufwändige Suche nach verfügbaren Medikamenten bzw. um alternative Präparate. Nur durch diesen Einsatz werden Lieferengpässe in der Regel zu keinen Versorgungsengpässen“, sagt Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der österreichischen Apothekerkammer.
„Wirkstofflager“, um wichtige Medikamente herzustellen
Schien sich die Bundesregierung im vergangenen Winter dem Medikamentenmangel noch machtlos ausgeliefert, gibt es für die heurige Erkältungssaison zumindest eine kurzfristige Lösung. Anfang November einigten sich Bundesregierung und der Pharmagroßhandel auf die Schaffung von sogenannten „Wirkstofflagern“, also die Einlagerung von Wirkstoffen, mit denen in Apotheken wichtige Medikamente selbst hergestellt werden können. Das Lager umfasst Zutaten für gängige Antibiotika und für Medikamente gegen Erkältungssymptome. Bei Lieferausfällen werden die Wirkstoffe von 23 Standorten in ganz Österreich an die Apotheken verteilt. „Ein nützliches Werkzeug für Apothekerinnen und Apotheker, um bestimmten Lieferengpässen bei Medikamenten entgegenzuwirken“, sagt Mursch-Edlmayr.
„Apothekerpreise“ sind längst Vergangenheit
Zudem wurde auch ein „Infrastruktursicherungsbeitrag“ vereinbart. Damit erhalten Pharmahändler vorübergehend für ein Jahr 28 Cent für Medikamente, die weniger als 3,93 Euro kosten, um zu verhindern, dass diese vom Markt verschwinden.
„Eine Maßnahme, die in die richtige Richtung geht, aber noch nicht das ganze Problem behebt. Ziel muss sein, dass der Infrastruktursicherungsbeitrag in ein Dauerrecht überführt wird“, sagt Roland Huemer, Vorstandsvorsitzender des Pharmaunternehmens „Richter Pharma AG“ mit Sitz in Wels. „Zudem sind Arzneimittelpreise in Österreich seit Jahren rückläufig. Zwei Drittel aller Arzneimittel, die der pharmazeutische Großhandel heute liefert, betreffen die Basisversorgung für die breite Bevölkerung, wie Schmerzmittel, Antibiotika und Herz-Kreislauf-Medikamente und liegen im sehr günstigen Preissegment. Was es braucht, sind inflationsangepasste Preise und Spannen“, sagt Huemer. Mittelfristig werde kein Weg an höheren Arzneimittelpreisen vorbeiführen, denn die sogenannten „Apothekerpreise“ seien längst Vergangenheit.
Die Produktion zurück nach Europa holen?
Apropos Preis: Dieser ist wohl wieder einmal der Kern des Problems. Von anderen Branchen nehmen wir nur die Lebensmittelproduktion her wissen und kennen wir zu gut, dass die Produktion immer dann abzuwandern droht, wenn woanders billiger produziert werden kann.
In der Arzneimittelherstellung war Europa bis in die 1950er-Jahre global führend. In den 1960er Jahren begannen die Schwellenländer Indien und China mit dem Aufbau pharmazeutischer Produktionskapazitäten, um den Eigenbedarf zu decken und paradoxerweise unabhängiger von anderen Ländern zu werden. Indische und chinesiche Hersteller wurden auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger. Der Preisdruck in den westlichen Ländern hatte zur Folge, dass die globale Arzneimittelproduktion immer mehr nach Asien verlagert wurde.
Noch im Jahr 2000 kamen 60 Prozent der Wirkstoffe aus Europa und etwa ein Drittel aus Asien. Heute hat sich das ziemilch genau umgekehrt: Gut 60 Prozent kommen aus Asien, ein Drittel aus Europa (siehe Grafik oben). Zudem hat sich in den asiatischen Ländern die Produktion konzentriert, was bedeutet, dass es bei vielen Wirkstoffen nur mehr ein oder zwei Hersteller überhaupt gibt. Die Folge: Eine sehr fragile Versorgungskette.
Die langfristige Lösung heißt also Rückverlagerung der Produktion nach Europa. Bestehende Initiativen gibt es. Zum Beispiel die Expansion der Penicillinproduktion in Kundl, die vor eineinhalb Wochen ihren Betrieb aufgenommen hat. Die lokale Produktion ist aber teurer. Und wie in anderen Branchen wird es auch in der Arzneimittelproduktion darauf ankommen, wieviel Österreich und wieviel die Bevölkerung dafür bereit ist zu zahlen.
Medikamente werden immer billiger
Verbraucherpreisindex und Medikamentenpreisindex klaffen auseinander. Während der Verbraucherpreisindex steigt, fallen die Preise für Arzneimittel. Eine fiktive Arzneimittelpackung, die 1996 noch 10 Euro kostete, kostete 2022 nur mehr 6,17 Euro. Gesetzliche Bestimmungen verhindern eine automatische Inflationsbereinigung. Sonst würde der Preis dieser fiktiven Arzneimittelpackung bei 17,02 Euro liegen.
Ein Lieferengpass ist noch kein Versorgungsengpass
Ein Lieferengpass tritt dann ein, wenn die Nachfrage nach Medikamenten das Angebot übersteigt. So kann beispielsweise temporär die Nachfrage unerwartet höher sein. Auch Probleme in der Lieferkette können der Grund sein, weil durch eine geringe Anzahl von Lieferanten bzw. Herstellern die Lieferkette weniger resilient ist. Auch Qualitätsprobleme, etwa durch Verunreinigungen bei der Herstellung, können Ursache sein. Oder aber Unterbrechungen beim Transport, wie es 2021 der Fall war, als ein Schiff den Suezkanal blockiert hat.
Gibt es Lieferschwierigkeiten, können die Apotheken auf ein Genericum, also ein Nachahmerpräparat mit gleichem Wirkstoff, zurückgreifen, ein Arzneimittel in einer anderen Apotheke oder im Ausland beschaffen oder aber das Medikament im apothekeneigenen Labor selber („magistral“) zubereiten. Mit Letzterem werden pro Jahr knapp drei Millionen Arzneimittel herstellt. Mit diesen Maßnahmen kann teilweise verhindert werden, dass aus Lieferengpässen keine Versorgungsengpässe werden.
Penicillin aus Tirol
Penicilline sind die führende Kategorie von Antibiotika. Weltweit gibt es fünf Werke für Penicilline.
Vier stehen in China, eines in Österreich: Die Firma Sandoz in Kundl in Tirol ist der einzige vollintegrierte Penicillin-Produktionsstandort in Europa, wo also vom Wirkstoff bis zur Tablette alles an einem Standort hergestellt wird.
In den vergangenen zwei Jahren wurde das Werk modernisiert. Am 10. November 2023 wurde die neue Anlage in Betrieb genommen. 150 Millionen Euro kostet die Anlage, 50 Millionen davon finanziert der Staat Österreich.
Bildquellen
- 022-023-NFFP-LLHP-20231128-1: Wirkstoffstudie 2020, Progenerika, Grafik: LustaufsLand
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